Titel
Bewegliche Habe. Zur Ethnografie der Migration. Begleitband zur Ausstellung im Haspelturm des Schlosses Hohentübingen vom 14.2. bis 16.3.2003


Herausgeber
Bretz, Ulrike; Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen
Anzahl Seiten
119 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Cornelia Kühn, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Ausstellungen zum Thema Migration haben Konjunktur, scheint es. Im Berliner Museum Europäischer Kulturen eröffnete kürzlich die Ausstellung „Migrationsgeschicht(en)“, im vorigen Jahr wurde dort die Fotoausstellung „Heimat Berlin?“ gezeigt, ein dritter Teil soll im kommenden Jahr folgen. Das Berliner Heimatmuseum Neukölln startete gemeinsam mit anderen europäischen Museen die Wanderausstellung „Born in Europe“. In anderen Städten sieht es ähnlich aus: Die Ausstellung „Geteilte Welten“ in Hamburg präsentierte Erfahrungen von Migranten anhand biografischer Interviews, „Migration“ war Thema von Ausstellungen am Kunstmuseum Liechtenstein sowie im Museum Arbeitswelt Steyr, „Da und fort. Leben in zwei Welten“ in Zürich, „40 Jahre Fremde Heimat“ in Köln, „Altern in der Migration“, „Migration – Interkulturalität – Schule“, „face migration“ – und die Liste ließe sich ohne Schwierigkeiten noch weiter fortsetzen. Es ist natürlich auch an der Zeit, Zuwanderung, die Situation und die Erfahrungen von Einwanderern in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Und der Fokus der Ausstellungen ist ein jeweils verschiedener.

Die Ausstellung „Bewegliche Habe. Zur Ethnografie der Migration“ und der dazugehörige Begleitband entstanden im Rahmen eines Studienprojektes am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaften der Universität Tübingen unter der Leitung von Bernd-Jürgen Warneken. Ein Studienprojekt heißt, dass Studierende im Hauptstudium in der begrenzten Zeit von zwei Semestern meist zum ersten Mal und ohne große finanziellen Mittel eigene kleine empirische Studien durchführen, deren Ergebnisse veröffentlicht werden. In diesem Falle wurden eine Ausstellung und ein begleitender Katalog mit Geschichten und Porträts von Einwanderern, Fotos, Erklärungen und Reflexionen erarbeitet. Die Rezension bezieht sich dabei nur auf den begleitenden Textband, die Ausstellung selbst, ihr Aufbau sowie besondere Aspekte oder neue Perspektiven, die daraus hervorgehen könnten, können aus Unkenntnis nicht mit einbezogen werden.

Laut der Einleitung des Begleitbandes verfolgte das Ausstellungsprojekt zwei spezielle Zielrichtungen: Zum Einen bezieht es sich auf Migranten – Flüchtlingen wie Aussiedler –, die erst vor kurzem nach Deutschland kamen, und zum Anderen zielt es auf die Dinge, die sie aus ihrer Heimat mitgenommen haben. Die (wenigen) Besitztümer der Einwanderer sollen einen Zugang zu den Personen und ihren Lebensgeschichten bieten, sie stehen als „Schlüsselsymbole“ für die Migrationssituation, für individuelle Erfahrungen und Strategien. Entstehen sollte dabei keine „eindrucksvolle große Schau von Migrantengütern“ (S. 8), sondern eine Darstellung individueller Schicksale, die „Differenzen von Schicht und Ausbildung, Alter und Geschlecht, Religion und ethnisch-nationaler Kultur“ als „mitbestimmende Bedingungen für die Lebenschancen der Menschen in der neuen Heimat“ berücksichtigt, wie mit einem Zitat von Gisela Welz programmatisch angekündigt wird. Die Einleitung reflektiert die Bedeutung der persönlichen Objekte als „Souvenirs“, „Identitätssymbole“ oder „Reflexionsobjekte“, die also sowohl die Kontinuität der Person sichern helfen, Erinnerungen und Sehnsüchte unterstreichen als auch die „allmähliche Ablösung von der Vergangenheit unterstützen“ können, wie im Anschluss an Utz Jeggle argumentiert wird.

Vorgestellt werden in dem Band 23 MigrantInnen, die zumeist noch in Asylbewerberheimen und Zwischenunterkünften der Region (Tübingen/Stuttgart) leben. Die Porträts folgen einem klaren Muster: Zunächst wird kurz die Migrationsgeschichte der betreffenden Person erzählt, dann einige ausgewählte Objekte mit ihren Hintergründen und persönlichen Bedeutungen geschildert und zum Abschluss stellen die meisten der AutorInnen einen Bezug zur einleitenden Fragestellung her: Ist das Objekt nun ein Zeichen von Nostalgie oder von Integration? Kann es für einen bestimmten Habitus, für Herkunft, Bildung und Kultur der Befragten herhalten? Illustriert sind die kurzen Porträts mit sehr gut ausgewählten, sympathisch und „ungestellt“ wirkenden Fotos der Migranten sowie der beschriebenen persönlichen Gegenstände.

Auch wenn die Präsentation von Migrationsgeschichten nicht mehr ganz originell ist, auch wenn der Blick auf die Objekte nicht immer hält, was die Einleitung verspricht, so sind die Umstände und die Situation von Menschen auf der Flucht oder der mutige und risikoreiche Schritt der Aussiedlung, die ersten Erfahrungen in Deutschland, Träume und Ängste, Sorgen und Hoffnungen in der Migration doch wichtig und oft zu wenig bekannt. Doch leider bieten die Porträts des vorliegenden Bandes in dieser Hinsicht wenig neue Einblicke. Es sind Geschichten von Verfolgung oder vom Tod der Väter und Brüder, von Ausgrenzung und Ängsten aufgrund von religiöser Zugehörigkeit oder ethnischer Herkunft, Erzählungen vom Verlust von Hab und Gut, dem Zurücklassen von Freunden und Verwandten bei der Ausreise, Solidarität und Mut in den ersten Ankunftsmonaten. In der Kürze der Darstellung lesen sich die Migrationsgeschichten wie Protokolle eines Pflichtinterviews bei der Aufnahmebehörde. Es sind mustergültige, fehlerfreie Biografien: Alle Befragten erfuhren Leid und Unrecht, waren wohlhabend und/oder glücklich in ihrer Heimat. Fast alle wollen schnell gut deutsch lernen, eine Arbeit finden, sich nützlich machen. Oder so schnell wie möglich zurückkehren. Nur an ganz wenigen Stellen wird beispielsweise die immer schlechter werdende wirtschaftliche Situation in Russland als einer unter mehreren Gründen für den Entschluss zur Aussiedlung mit erwähnt. Die teure Goldkette, die sich ein Inder nach kurzer Zeit in Deutschland gekauft hat, ist nicht nur ein Statussymbol, sondern eben auch ein Verbindungsglied zu seiner Frau, der er ebenfalls eine solche Kette geschenkt hat. Und im Wohn- oder Asylbewerberheim, so klingt es jedenfalls, helfen sich die meisten Bewohner gegenseitig: der eine schneidet die Haare, die andere näht, der dritte repariert. Als negativ erwähnt werden nur die Anfangsbedingungen des Lebens in Deutschland: die Situation im Heim, die Angst vor Abschiebung, die lange Wartezeit während der Bearbeitung des Asylantrags, das Arbeitsverbot und die begrenzte Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht in dieser Zeit.

Auch die Objekte sind den Geschichten angepasst: der Pass als wichtigstes Dokument beim Asylverfahren; Ikonen und Gebetbücher als Bestätigung der Glaubensausübung und -verfolgung in der Heimat; Bilder und ein Handy als Erinnerung und Verbindung zur Familie; Bücher und Studienhefte als Zeichen von Bildungswillen; ein Foto vom neuen regionalen Fußballverein als Beispiel für Integrationsbemühungen; eine Näh- oder Haarschneidemaschine als Hilfsmittel zum Überleben in der prekären Situation, Zeichen von der „Kreativität des Notbehelfs“ und der Solidarität im Heim; Fotoapparat oder Fahrrad als erste Mittel zur Erkundung der neuen Umgebung.

Die Gründe für diese Art der Darstellung werden in einem Nachwort als Probleme des Zugangs zum Feld reflektiert: Weil die Befragten durch die Ausstellung aus der Anonymität treten, indem sie mit Namen und Foto genannt sind, ihre Asylanträge jedoch noch laufen, sollte nichts geschrieben werden, was für sie von Nachteil sein könnte. Dazu kommen die Sprachschwierigkeiten der Probanden beim Interview, Unsicherheiten im Umgang mit der (öffentlichen oder formellen?) Situation, und ein Dolmetscher, der zugleich für die Aufnahmebehörde übersetzt und damit von den Befragten wohl eher der offiziellen Behördenseite zugeordnet wurde. Und auch die Präsentationsform einer Ausstellung gebietet gewisse Einschränkungen – Vorurteile sollen nicht fortgeschrieben oder verstärkt werden. Wichtiger war es den Ausstellungsmachern, Verständnis und Entgegenkommen für die Situationen der Neu-Deutschen zu wecken. Und dennoch: Von einem Band mit dem Untertitel „Zur Ethnografie der Migration“ wäre ein tieferer Einblick in informelle Zusammenhänge und persönliche Geschichten zu erwarten gewesen.

Und so fragt man sich denn, ob es nicht einen Mittelweg gegeben hätte. Eine kleinere Zahl von Probanden und Porträts hätte sicher genügt, um eine große Bandbreite von Situationen, Erfahrungen und Schicksalen darzustellen. Zusätzlich hätte man dann vielleicht mehr Beschreibungen in die Texte einfließen lassen können: Eindrücke und Wiedergaben der Atmosphäre im Wohnheim; neben gegenseitiger Hilfe auch Streitigkeiten, Probleme oder Kleinhandel zwischen den Bewohnern; Stimmungen und Erzählungen der Probanden, wie etwa über die Situation des Wartens und der Unsicherheit; Beschreibungen von Träumen und Ängsten der Befragten; die Wiedergabe von Dialogen aus der Forschung, von Situationen und Missverständnissen. Vielleicht hätte eine solche Darstellung mehr Einblicke in reales und gelebtes Migranten-Dasein geben können und die standardisierten Biografiemuster durchbrochen, ohne den Probanden zu schaden? Vielleicht hätte dann ein solcher Textband auch mehr der deutschen Außenwelt oft unbekannte Lebensrealität vorführen und damit mehr Integrationshilfe leisten können?

Dank der erklärenden Anmerkungen zur Feldforschung wirft das Buch so aber wichtige Fragen zu Problemen ethnologischer Forschung und ethnografischer Praxis auf, die leider zum Teil unbeantwortet bleiben: Wie kann man mit den Informationen aus der Feldforschung umgehen? Welche Folgen hätte die Darstellung internen Wissens? Wie „p.c.“ müssen die Aussagen für die Öffentlichkeit sein? Schafft eine solche Idealdarstellung der Einwanderer mehr Verständnis im transkulturellen alltäglichen Umgang miteinander? Dennoch zeigt der Band einige interessante Beispiele von der Situation der Flüchtlinge und Aussiedler. Und in Kombination mit der Konzeption einer Ausstellung sowie mit den begrenzten zeitlichen wie finanziellen Ressourcen eines Studienprojektes wäre eine längere und tiefer gehende Forschung vermutlich nur schwer realisierbar gewesen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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